9 DIE GEGENWART DER VERGANGENHEIT

DER LANGE WEG ZUR AUFARBEITUNG

DER LANGE WEG ZUR AUFARBEITUNG

Bis heute lastet auf unseren wissenschaftlichen Erfolgen auch der Schatten der Vergangenheit: Zwei unserer Vorgänger-Institute existierten bereits während der NS-Zeit und spielten von 1933 bis 1945 eine teils unrühmliche Rolle.

Erst 1983 setzte sich eine Ausstellung zur Geschichte der Vorgänger-Institute erstmals öffentlich mit den düsteren Aspekten unserer Vergangenheit auseinander.

Eine umfassende wissenschaftliche Aufarbeitung fand ab 1997 statt. Im Auftrag der Max-Planck-Gesellschaft (MPG) erforschte eine externe Historikerkommission unter der Leitung von Reinhard Rürup und Wolfgang Schieder die NS-Geschichte der damaligen Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft (KWG) und ihrer Institute. Bis 2007 entstanden hieraus 17 umfangreiche Buchpublikationen. Sie erbrachten unter anderem den Beweis, dass eine Reihe von Instituten aktiv an NS-Verbrechen beteiligt gewesen war. 2001 bat MPG- Präsident Hubert Markl die Opfer und ihre Angehörigen öffentlich um Entschuldigung.

UNRECHT OFFENLEGEN

UNRECHT OFFENLEGEN

Die Arbeit der Historikerkommission zeigte, dass die KWG die meisten ihrer jüdischen Mitarbeiter*innen schon 1933 ohne großen Widerstand gegen die Vorgaben des NS-Regimes entließ oder vorzeitig in den Ruhestand versetzte. Grundlage hierfür war das „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ von 1933. Auch in unseren Vorgänger-Instituten in Berlin und Dresden wurden neben anderen Mitarbeitenden zwei Direktoren aus antisemitischen Gründen entlassen:

Carl Neuberg (1877–1956), Leiter des KWI für Biochemie in Berlin, war als Frontkämp- fer des Ersten Weltkriegs zwar zunächst von den Entlassungen ausgenommen, doch schon 1934 folgte seine Zwangsbeurlaubung. Neuberg forschte in einem Privatlabora- torium weiter und emigrierte 1939 in die USA.

Max Bergmann (1886–1944), 1922 Gründungsdirektor des KWI für Lederforschung in Dresden, wurde 1933 entlassen und emigrierte noch im selben Jahr in die USA. Ebenso wie Neuberg forschte er dort erfolgreich weiter – zuletzt als Direktor des chemischen Laboratoriums am Rockefeller Institute for Medical Research in New York.

VERBRECHEN BENENNEN

VERBRECHEN BENENNEN

Die größte Pervertierung der Wissenschaft war die Beteiligung an Menschenversuchen. So ging eine Schuhprüfstrecke im KZ Sachsenhausen auf die Initiative Wolfgang Grassmanns zurück, der Direktor am KWI für Lederforschung war. KZ-Häftlinge mussten dort von 1940 bis 1945 Schuhe aus Lederfaserstoffen erproben – im Dauerlauf und bis zur völligen Erschöpfung. Wer nicht weiterlief, wurde erschossen.

Welche Rolle der Leiter des KWI für Biochemie, Adolf Butenandt, bei Menschenversuchen während des Zweiten Weltkriegs spielte, wurde intensiv erforscht und kontrovers diskutiert. Wichtige Unterlagen aus dieser Zeit fehlen, zu Vorwürfen hat Butenandt geschwiegen. Eine Beteiligung konnte ihm zwar nicht nachgewiesen werden, doch war er über Menschenversuche informiert und hat sie nicht verhindert. So führte sein Mitarbeiter Gerhard Ruhenstroth-Bauer, einer der Gründungsdirektoren unseres Instituts, in Kooperation mit dem KWI für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik Versuche an Kindern in einer Unterdruckkammer durch. Erst 2001, als Ruhenstroth-Bauer mit den neuesten Forschungsergebnissen konfrontiert wurde und keinerlei Reue zeigte, erhielt er ein Hausverbot an unserem Institut.